Sonntag, 13. März 2016


Berthold Heinrich Daut

Biobibliographie


5.6.1933 (Wiesbaden) - 10.6.2002


Ältester Sohn von Heinrich Gotthold Daut und Lina Daut, geb. Reichel
1933-44 Kindheit in Wiesbaden, 1944 ausgebombt. Vater in Russland.
1947 Bei den christlichen Pfadfindern CP bis 1954/55, danach Jungentrucht
1954 Abitur, danach Studium der Germanistik und Geographie in Frankfurt/Main und ab 1956 in Mainz
1960/1965 Staatsexamina Deutsch (Arbeit über Stefan George)/Erdkunde
6.9.1966 Zweites Staatsexamen (Pädagogische Prüfungsarbeit: „Eine Stellungnahme zu den Prinzipiern, nach denen Gedichte für die Lesebücher der Mittelstufe ausgewählt worden sind, und einige aus Unterrichtsversuchen gewonnene neue Vorschläge“), Studienrat z.A. in Treysa
23.3.1967 Eheschließung mit Mechthild Wehlmann
1968, 1975, 1985 Theaterarbeit mit Schülern und VHS, u.a. Grabbe, Courteline
31.8. 1970 Geburt des Sohnes Stefan. Ernennung zum Studienrat an der Diltheyschule/Wiesbaden
1983 Scheidung
1984 Konversion
11.10.1984 Zweite Ehe mit Cordula Busch
1986 Erwerb eines Haus in Lissacaha, Schull/Irland
1994 Vorzeitige Pensionierung und 20.7. Umzug nach Irland
1998 Umzug nach Wolfenbüttel: Forschungen zur Alchemie
1999 Rückkehr nach Wiesbaden, Krankheit

Editorisches:                                                     
Wulffenpresse:
1959: Die Lieder für Lycidas. Fünf Gedichte, entstanden 1954, Autor ungenannt.
B.D.: Aufruf zum „Lyrikwettbewerb Bündischer Jugend“ mit Ankündigung einer Anthologie für das Jahr 1959. In: Der Grosse Wagen 2,4, 1958, S. 17.
[Das Projekt nahm eine allgemeine Form an und erschien als „Ultra I“, s.u.]
Dieter Vollmer: Russische Elegie. Wiesbaden 1960, 14 S.
Berthold Daut (Hg.): Ultra I. Wiesbaden 1960, 102 S. [Vorwort 16.11.1959]
[Gedichte von Jörg Cardo, Olaf Dalken, Wilhelm Eggenweiler, Manfred Eisenbeis, Ulrich Enderwitz, Hansjoerg Finckh, Gerd Forster, Konrad Helis, Verena Jarnko, Dietrich Krusche, Dietrich Leube, Heinz Mangold, Jürgen Menningen, Siegmund Nimsgern, Peter Stutzke, Jochen von Wick und Ilse Wohlfarth. - Rezension C.E. Wiesbadener Tageblatt vom 1.3.1960: „ Seltsam bleiben zwei Beobachtungen, einmal die kleine Form und dann die zahlreichen Nachtgedichte. Dieses Flüchten der jungen Menschen aus dem lärmendem Tage.“ - Hinter dem Autor Konrad Helis aus dem Rheingau verbirgt sich der Herausgeber, vgl. „ Du bist die kühle amphore nacht“ mit zwei Strophen, die in „Stimmen und Schatten“, S. 25 weggelassen und durch eine neue dritte ersetzt sinde. Die beiden anderen Gedichte „Knabe auf einem brunnenrand“ und „Sieh das leichte auf flamingoflügeln“ (S. 46 f.) sind nur hier abgedruckt.].


Werke:
B.D.: „der junge waldläufer“. In: Jungenland 1956, S. 253 [ bearbeitet und verkürzt in: Der Wildfahrt 28, 1961, S.7].
B.D.: „Vier Gedichte“: Mittelmeerische Stunde, Wer die becher füllt, Alle züge haben verspätung, Auf deiner stirne“. In: ]. In: Welt und Wort. Literarische Monatsschrift (Tübingen) 11, 6, 1956, S. 179 [vgl. die beiden letzteren in Stimmen und Schatten, S.44 und 42].
B.D.: „Regenfahrt“. In: Der Wildpfad 16, 1959, S.16 [auch mit Melodie von Diether Hofmacher in: Liederblätter Deutscher Jugend 109-120, Heidenheim, 1963., S. 109b].
B.D.: „morgens wolkenweisse stadt“. In: Der Grosse Wagen 2,3,1958, S. 2 [vgl. Stimmen und Schatten S. 19].
B.D.:“Über das Gesicht“, Betrachtung. In: Der Grosse Wagen 4,2, 1958, S. 2-3.
B.D.: „Andreas“ – ein poetisches Fragment. Typoskript Nov. 1959, 8 Seiten.
B.D.: Portugiesische Skizzen. Typoskript, 8 Seiten o.J.
B.D.: Ein Beitrag zum Verständnis und zur Bewertung der dichterischen Leistung Teuts [i.e. Karl Christian Müller]. Erster Teil: „Der Kranz des Jünglings“. Typoskript o.J., 9. Seiten.
B.D.:[Drei Gedichte] „Unzeit“, „Im erdgeschoss schlagen fäuste..“,“ Geograph“. In: V.O.Stomps (Hg.): Alphabet. Eine Sammlung aus Lyrik-Manuskripten. Eremitenpresse 1960, o.J.
B.D.: „Traumvögel“. In: Ekkehard Eickhoff: Neue Ornithologie. Stierstadt (Eremiten-Presse) 1960, S. 13 [vgl. Stimmen und Schatten S. 41].
B.D.: „Von einer Bretagnefahrt“. In: Der Eisbrecher, Mai 1960, S. 9-11.
B.D.: „Paris“. In: Der Eisbrecher 4, Okt. 1960, S. 80-83.
B.D.: „Artisten“, Erzählung. In: Der Eisbrecher 10, 1965, S. 243-245.
B.D.: „Bretonische Elegie“. In: Der Wildpfad 25, 1960, o.S. [3 Seiten].
B.D.: Gedichte aus der Sammlung „Symmachia“ (1960). [Reife der Zeit, „Da ist ein haus..“, „Weisst du wie ich zu dir kam?“ Forsythien. In: Der Grossse Wagen 1,1, März 1963, S. 2-4. – „Skizzen I-III. Ibidem, S.6-8. [Später in „Stimmen und Schatten“].
B.D.: Fünf Gedichte. [„Die blaetter..“, „Stundenlang..“, „Als ich vor die tuer trat“, „Im dunklen segel..“, Leise wiegt der abendwind..“] In: Der Grosse Wagen 1,2, April 1963, S. 12-13.
B.D: „Gibt es trostlose Landschaften?“ In: Der Wildpfad 30, 1965.
B.D: „Erinnerungen an Stefan George“. In: Wiesbadener Kurier 9./11. Juli 1964, Feuilleton.
B.D.: „Die funkelnde Woge schwillt“; „Über Gedichte“. In: Ananda Marga Zeitung für den deutschsprachigen Raum 5, 1979, S. 9, 10,25.
B.D.: „Irischer Zeitraum“. In: Wiesbadener Kurier-Magazin, 16./17.Juli 1988, S. 4 [vgl. Stimmen und Schatten S. 115].
B.D.: Elf Gedichtblätter. Wiesbaden 1988. [ohne Verlag, Loseblattmappe]
B.D.: Stimmen und Schatten. Wiesbaden (Gealach Labhras) 1993. [Gedichte 1950-1985].
B.D.:[Drei Gedichte] „Karl Wolfskehl“ 1987, „Stefan George in Minusio“1988, „Resurrexit“1977. In: Neue Beiträge zur George-Forschung 15, Bingen 1990, S. 38.
(Hg): Die hundertelf GEHEIMNISSE des Frater Todd Ulan Schobel. Wiesbaden (Gealach Labhras) 1989, 75 S. [Groteske].
B.D.: Helmut Völker u nd seine Bilder. Eine Annäherung. Wiesbaden (Gealach Labhras) 1990, 8 S.
B.D.: „Aus der ‚77‘“ –„Die wolken gleichen aufgewölbten türmen“. In: Neue Beiträge zur George-Forschung 17, Bingen 1992, S. 60.
B.D.: „So war dies alles erst der Morgengang?“.Stefan Georges künstlerische Orientierung im Jahr 1982 und die „Sprüche für die Geladenen in T.“. Aufsatz Wiesbaden (Gealach Labhras) Dez. 2003, 33 S. Ungebundener Druck.
B.D.: Erinnerungen an meine Kindheit in Wiesbaden 1933-1945. Sonderdruck ungebunden Wiesbaden (Gealac Labhras) 2004, 33 S. Siehe schon „Damals war es Gegenwart“. Lebenserinnerungen aus dem 20. Jahrhundert II, Akademie für Ältere. Heidelberg, 1997, S. 40-45. – Als Typograph dazu: „Ein Briefwechsel im Kriege“. [Briefwechsel der Eltern 1938-1944] o. J.
B.D.: Gedichte vom 50. und 52. Breitengrad. Wiesbaden (Gealach Labhras) Dez. 2000.
B.D: „Wie lange werde ich der Versuchung, meine Biographie zu schreiben, widerstehen?“. Typoskript vom 17.8.2001, 2 S.
B.D.: „Meine Gedanken über Dauer und Bedeutung des menschlichen Lebens“. Typoskript Frühjahr 2002, 2 S.
B.D.: Paul Valéry. Friedhof am Meer. Neu übertragen von Berthold Daut. Wiesbaden (Gealach Labhras) 2002. [von 1996; Vorbemerkung C. Daut]
B.D: Vier Gedichte] „Wieviel bleibt uns noch, dir, Erde, zu sagen: Wir sind?“, „Wieder das Laub auf den Steinen. .“, Zykadenland“, „Labyrinth“. In: Castrum Peregrini, 54, 2005, Heft 168-169, S. 77-80.
Einzelnachweise
B.Daut: Heinrich Kunrath – Theodidakt und Enthusiast. In: Hermes 14, 1998, S.14-18. Vgl. www.antiquariatlange.de [Hermes ist nicht die altphilolog. Zeitschrift]
hhttp://www.wiesbadener-kurier.de/region/serie/ kriegsende.. vom 29.4.2005. „Ahoi-Brause und Schinken aus Russland“ [zu „Erinnerungen“]



Reinhard Pohl:

Berthold Daut: Stimmen und Schatten (1993)



   Diese in Halbleder gebundene und mit erlesenem Papier ausgestattete größte Sammlung ( 115 S.) der Gedichte Berthold Dauts umfasst eine Auswahl aus den Jahren 1950 bis 1985, zeitlich in sechs Kapitel mit Überschriften unterteilt, die im folgenden hier präsentiert werden sollen zusammen mit einer abschließenden Auswahl der markantesten Gedichte daraus. Im Großen und Ganzen ist diese Anthologie chronologisch angeordnet, unterliegt jedoch einem Gesamtkonzept mit einem späteren, keltisch-maritimen Einleitungsgedicht („Frage an Sindbad“), drei Prosagedichten und einer thematisch-kontrastiven Aufreihung, wobei das dritte Kapitel ebenfalls den Titel des Buches trägt, also seine Mitte ausmacht. Den Abschluss nach „Zehn Gesänge“ (Kap. VI)  bildet abgesetzt „Irischer Zeitraum“ (S. 115) aus dem Jahre 1983, so dass Anfang und Ende eine thematische Umfassung der Jahrzehnte - formal in konventioneller Orthographie - und damit zugleich auch eine poetisch-geographische Gesamtbewegung signalisieren.

Kapitel I: Jahreszeiten, Skizzen (1950):

Morgens wolkenweisse stadt (S. 19)
   Unter den Dichtern vom Ausgang des 19. Jahrhunderts gibt es wohl niemanden, der an der typographischen Anordnung seiner Gedichte sofort zu erkennen wäre außer Stefan George (1868-1933), später gewiss Apollinaire mit seinen „Calligrammes“  (1913-16), die Sprache bildlich z.B. als Springbrunnen anordnen. Kennzeichnend für Georges Verse sind - im Rückgriff auf die Brüder Grimm - deren konsequente Kleinschreibung bis auf den Zeilenbeginn, eine Interpunktion ohne Kommata, vereinfachte Konsonantenballungen („jezt“ statt „jetzt“) sowie eine eigene, von seiner Handschrift abgeleitete Drucktype, deren zeitliche Abwandlungen in der achtzehnbändigen Gesamtausgabe ab 1928 dokumentiert sind. Dort in den Anhängen bezeugen Handschriftproben die Entwicklung dieser Georgischen Minuskel. Alle anderen Einzelausgaben enthalten keine Handschriftenproben. Wer sie verwendet – man kann sie heute im Internet erwerben – bekennt sich zu einem ästhetischen Ideal der Text- und Buchgestaltung, das freilich auch immer nach inhaltlichen Bezügen befragt werden könnte. .
   Berthold Dauts Balkan-Gedicht „Morgens wolkenweisse stadt“, das hier wohl recht früh mit 1950 datiert ist, erschien in der bündischen Zeitschrift „Der Grosse Wagen“ der Jungentrucht in Heft 3, 1958 in der Georgischen Minuskel, die aus dem „Stern des Bundes“ (1914, vgl. Gesamtausgabe VIII, nach S. 114) übernommen ist. Vordergründig lassen sich dafür zwei Gründe finden: zum einen knüpft Berthold Daut an die George-Tradition der Vorkriegshefte des „Grossen Wagen“ und seines Herausgebers Karl Christian Müller an, zum anderen enthält dieses Heft poetische Text in verschiedenen Schrifttypen, direkt davor einen in handgeschriebener Unziale. Kurzum, Berthold Daut verwendet in Schriftwahl und Verstypologie eine Tradition, der er sich in fast seinem ganzen lyrischen Werk formal verbunden hält, von der Modifikation der Interpunktion und der Konsonanten abgesehen. Poesie entzieht sich der Alltagssprache und -schrift, mag sie auch hier den Alltag in einer Balkanstadt spiegeln. Es wird allgemein noch genauer zu untersuchen sein, welche bewussten inhaltlichen Anlehnungen zu verzeichnen sind und welche unabhängigen Akzente der junge bündische Dichter und belesene Germanist Berthold Daut setzt lange vor der allgemeinen George-Wiederentdeckung mit der zweibändigen Neuausgabe von 1958. Er selber äußert sich umfassender dazu in einem Zeitungsartikel von 1964 „Erinnerungen an Stefan George“ auf den wir gleich eingehen werden.
   Festzuhalten bei der Gegenüberstellung des Manuskripts mit dem Druck in „Stimmen und Schatten“ ist der individuelle Charakter des ersteren trotz der George-Anwartschaft, wo allein das Wort Allah eine Majuskel hat, und erst die Druckfassung den georgischen großen Zeilenbeginn wieder auf nimmt. Das Fremdartige der Handschrift fügt sich natürlicher in diese orientalische Balkan-Atmosphäre ein. Dauts Beschreibung zieht als Tagesablauf an den Augen vorüber mit jeweils typischem Lokalkolorit. Tages- und Jahreszeiten bleiben hinfort bevorzugte dichterische Sujets an wechselnden Orten. „Stimmen und Schatten“ tauchen nicht nur textuell als Motive auf, sondern sind lautlich wie bildlich ein Echo poetischer Orientierung, hier zunächst an Stefan George. Auch der duale Titel erinnert an dessen Prosa-Band „Tage und Taten“ mit jahreszeitlichen Texten, der mit einer Nummerierung durch römische Ziffern eröffnet wird. 
   Die körperliche Erfahrung der wechselnden Jahreszeiten sozusagen auf der Haut und im Gemüt war bei Berthold Daut eingangs bereits in den beiden ersten Prosaskizzen (I, II) thematisiert und in farbigen Spiegelfacetten einer Traum-Erinnerung à la E.T.A. Hoffmann gebrochen. Meeresthematik und Regenwelten fließen sodann ineinander in dem Lied „Regenfahrt“, das in vielen Fahrtengruppen gesungen wurde, weil es die herbstliche Stimmung als Gemeinschaftserlebnis sehr suggestiv wieder gab. Die wenigen Sommer- und Herbstimpressionen dieses Eingangsteils sind farbstark und klangreich auch dank ihrer Reime und Alliterationen.





Morgens wolkenweisse stadt
Rotes segel sich enthüllt
polternd rollt ein karrenrad.
Netz vom meere reich gefüllt

Mittags ist der wind erschlafft
Heisser dunst und düfteschwall.
Eine feige platzt vom saft
Prahlen fürchte rot und prall.

Der basar im sonnenbrand.
Rings gesichter braun und fremd.
Nach dem bakschisch greift die hand
Eines kinds im fetzenhemd.

Abends ruft vom Minaret
des Muezzins wehend Lied
Allahs diener zum gebet.
Schatten wachsen wo er kniet.
(S. 19)

Regenfahrt
An fernen horizonten
blüht noch ein blaues licht.
Wir sind ihm nachgezogen
mit träumendem gesicht.

In regengrauen fluten
starb mohn und mut und welt.
Wir kauern um die gluten
gesang durchweht das zelt.

Wir fahren mit den netzen
Hinaus ins regenmeer.
Wir fischen schwarze träume:

sternalt gezeitenschwer.
Kapitel II:

„Eine Amphore die mit Traum und Sternen gefüllt ist“
(1950-1964)
   
   Der landschaftliche Horizont erweitert sich, und das Erlebnis des Meeres tritt deutlicher in den Vordergrund: „Mittelmeerische Stunde“ (S. 24). Stilistisch  reihen sich wieder Bilder aneinander, werden jedoch  mehr und mehr syntaktisch komprimiert. In den drei malerischen Strophen findet sich erst am Schluss ein volles Verb, das die Impressionen ins elementare Meer zurückführt. Der Dichter ist als Betrachter für einen Augenblick gebannt, geblendet und glaubt, in einer Traumwelt zu sein. Die folgenden Strophen zwei und drei spiegeln in subtiler rhetorischer Umkehrkonstruktion den Rhythmus der Dünung, die aufläuft und wieder abfließt (zur Verdeutlichung von uns unterstrichen) und sich dann in Strudeln aufzulösen scheint.
.. 
Dünung atmend im schutt der inseln
Geräusch der brandung
an der hüfte des steins.
Hirtenfeuer, Thymian und Fische
O kalkweisse stunde!

Atem der dünung
schaumschwer und herzlos
saugt die säulen der träume
Türme und bäume
Das oval des himmels
Ins nun drohend bewegte
Verwühlte meer.

Die Traumdimension wirkt entgrenzend und verdichtet zugleich die Beschreibungen. Eher als ein forschender, psychologischer Ansatz gilt eine verschmelzende Grunderfahrung , die George so formulierte:
  „Das wesen der dichtung wie des traumes: dass Ich und Du - Hier und Dort -Einst  und Jetzt nebeneinander bestehen und eins und dasselbe werden.“ (Tage und Taten, GSA 17, S. 86). Daut überhöht diese verketteten Dichotomien durch kühne Metaphern wie in der unverbundenen Gleichsetzung von „amfore“ und „nacht“:
 Du bist die kühle amfore nacht
 die im traum mit sternen gefüllt ist
 gastgeschenk heisserer länder.
..
Du trägst die goldene maske des traums
die mit kühlen lippen lächeln kann
archaisch fremd.
(S.25)
Er dringt dabei kurz bis in die archaische Tiefe des Mythos vor: zu Ariadne und Theseus („Labyrinth“, S. 27: „Im sommer wars/als Ariadne mir den Faden schenkte./Doch Theseus herz/Schlug nicht in mir“)), den Argonauten mit Orpheus („Die Amme“, S. 28) und schon ins westliche Meer nach Ophir und Avalun („Traum“, S. 31).
Auf freibeutermeeren
Mit hochbordigen schiffen
Nach land Ophir
Der fernwehsegel
vagantischer fahrt.
(ebda.)
Die kühne Metaphorik „fernwehsegel“ geht in der Zusammenschreibung noch einen Schritt weiter in der Traum-Amalgamisierung des Bildes, das hier zugleich seine Bedeutung mit sich trägt. Dies erzeugt eine Ausdrucksverknappung und  muss Wort für Wort errungen werden:
Stundenlang
kaure ich vor einem tisch
ohne ein wort aufs papier zu schreiben.
Die tusche trocknet ein

die feder wird rosten –
Aber wieviel sinn!
(S. 35)
   Natürlich kennt Berthold Daut Mallarmés Gedicht „Brise marine“, wo der Dichter zu Hause vor der leeren Seite sitzt und ihn der Traum von einer Fahrt übers Meer inspirativ abschweifen, jedoch letztlich die weiße Seiten noch füllen lässt. [1] Die bildlose Leere des Dichters Daut erscheint ihm selber plötzlich nicht mehr negativ, sondern paradoxerweise sinngebend, nur dass dieser offene Sinn nicht benannt wird oder werden kann.
   Das Schreiben ist das primäre Mittel der Selbsterfahrung angesichts der bewusst wahr genommenen oder geträumten Landschaften und maritimen Evasionen zu fernen Küsten: den „Geograph“ (S. 30) treibt seine Sehnsucht durch die Kontinente vom Kilimandscharo über Tibet zu den Tipis der Navajo. Mexikos blutige Kulturen werden evoziert  (S.32).  Die Begegnung mit dem Du vollzieht sich in geographisch stimulierenden Kontexten. Eine kontinuierliche Entwicklungslinie ist dabei in der Text-Auswahl der beiden Eingangskapitel nicht deutlich auszumachen und soll es wohl auch nicht. Furcht vor dem Verlassen-Werden dessen, ohne den man nicht mehr leben kann, wird als Albtraum in der einleitenden dritten Prosaskizze thematisiert. Dass die mit „du“ Angesprochen wohl männlich sind, ergibt sich aus der Struktur der bündischen Fahrtengruppen der 50ger Jahre. Die Emotionen dieser Freundschaften bedienen sich dabei durchaus erotischer Symbolik:

Pablo
(für Else Lasker-Schüler)
Deine spur im weichen sand
deine spur gefärbt nun
mit meinem blut, Pablo.

Mit meinem verlangen
das ich dir nachtrug:
ein bündel scharfer messer und pfeile.

Deine spur, Pablo, verwischte das meer.
(S. 26)
  Dienten die Parallelen zu maritimen Mythen einer Überhöhung des Erlebten in zeitloser Vergegenwärtigkeit, so scheint Eigenes sich durch die Bezugnahme auf die Leseerfahrungen zu veredeln. Die Expressionisten Benn, Lasker -Schüler werden bei Daut ebenso wie später Rilke, Saint-John Perse und sogar ein Paul Celan kompatibel mit dem sich öffnenden Georgischen Rahmen, hier formal durch die bei Lasker-Schüler dominanten Terzinen, doch vor allem in inhaltlicher Hinsicht. Pablo ist bei ihr ein „stolzer Eingeborener“, ein nächtlicher Besucher im fernen exotischen Milieu:
Es ist mein ewiger Liebesgedanke,
Der zu dir will.[2]
Mag diese Sehnsucht sich hier nach langem Warten nächtlich erfüllen, das ganze Gedicht ist eigentlich eine Ansprache an den Abwesenden.
   Berthold Daut dramatisiert das Leiden seines Ich durch das Bild der offenen Wunde. Das Meer, das bei Lasker Schüler nicht explizit genannt ist, verwischt die blutige Spur der eher nicht erfüllten Ich-Du Beziehung. Nicht realem Geschehen oder einem Namenvetter Pablo soll nachgespürt werden. Erfüllung vollzieht sich als Klage in einer ambivalenten Bildlichkeit in  Seelenverwandtschaft mit der Dichterin Else Lasker- Schüler. Ihr Schatten ist sichtbar:
Im dunklen segel
meines herzens erlischt ein abend.

Wenn der wind dreht
stürzen finstere vögel
in mein schwankendes boot.

Wenn der wind dreht
hör ich nicht mehr den steuermann.
Kalte gischt sprüht auf hände und stirn.

Im dunklen segel
meines herzens erlischt ein abend.
(S. 37)
.  Die Tages- und Jahreszeiten waren das kompositorische Gerüst dieser ersten beiden Kapitel. Jetzt nähert sich das Ende des Jahres, das in erweiterter Weise  ein Jahr der Seele geblieben ist. Berthold Daut spielt direkt darauf an:
Wie steigen in das jahr die tage!
Nun fallen früchte ihrer schwere zu
Und füllen reif des sommers schale
Die voller wird und sinkt.
(S. 43)
Bei George hieß es:
Es lacht in dem steigenden jahr dir
Der duft aus dem garten noch leis.
Flicht in dem flatternden haar dir
Eppich und ehrenpreis-
..
Verschweigen wir  was uns verwehrt ist-
Geloben wir glücklich zu sein
Wenn auch nicht mehr beschert ist
Als noch ein rundgang zu zwein.
(GSA: Das Jahr der Seele, 1928, S. 93 von 1897)


Auswahl II

Traumvögel
Über oktoberzisternen gebückt
Ahnungen – leise – im schlaf
Nach vergeblichen flügen.
Der bettler hat die sichel gezückt
Die taschen gefüllt mit freundlichen lügen..

Flügel düster am schattengestad
Ihre glätte streift unser schlafen:
Mit horchendem ohr an die erde gepresst
An die kalten steine im hafen.

Wir hören die fremden schreie vom meer
Und werden die flüge begreifen:
Morgen füllt die zisternen das meer
Werden die lügen reifen.
(S. 41)

Alle züge haben verspätung.
In regenstürmen erblindet das letzte signal.

Lass dich nicht täuschen
wenn sie lachen
sie meinen etwas andres
wenn sie klagen wenn sie liebe wollen
abends, so hilflos im gesicht.

Leben sie noch in der tundra des herzens?
Ihre fahrscheine zur ewigkeit sind wechsel
Und anträge auf automatisches gehirn.

Du hebst mir deine stirn entgegen
Durch unser haar stürzt wind.
Meine augen sind müd
Und halten dich nicht mehr zurück.

Alle züge haben verspätung.
In regenstürmen erblindet das letzte signal.
(S. 44)

Jahresgedicht

Weisse flächen sind draussen, spuren im neuschnee
Blaues eis, dem die sohle sich zaghafter anschmiegt,
Ästeschatten, das langvertraute bild des Orion.
Wende dich in das jahr der träume zurück!
Ach, nur ein jahr? Vergangen scheint ein jahrhundert.
Drinnen brennt schon der docht, der schatten herbeiholt.
Zögernd drehst du die sanduhr, füllst in das glas den wein.
Gestern und heut, dunkel und licht werden ein.
(S. 46)








[1] Übersetzt als „Seebrise“, vgl. Stefan George: Zeitgenössische Dichter. Zweiter Teil, GSA 1929, S.35.
[2]  Else Lasker- Schüler ; „Vermischte Gedichte“. In:  ELS: Dichtungen und Dokumente. München (Kösel) 1951,  S. 40 f.